Teil 1 - eine Geschichte von Beatautor Hartmuth Malorny

Thomas saß am Steuer seines VW-Bullys, neben ihm Hardy, während sich T-Base auf dem Rücksitz lümmelte. Die drei näherten sich dem Ortseingangsschild von Hagen. Es war ein kühler, dunkler Frühlingsabend, 22 Uhr, alle drei leicht angetrunken und ziemlich gelassen. Plötzlich bremste Thomas stark ab, lenkte zum Seitenstreifen und stoppte genau vor dem Ortsschild. Er beugte seinen Körper runter und stützte sich am Lenkrad. Er nahm seine Sonnenbrille ab. Er starrte durch die Windschutzscheibe. „Und wieder überschreiten wir den Rubikon.“ Das hatten die drei seit zwei Jahren allmonatlich getan, wenn sie zum Simpl fuhren, um dort einen 60-minütigen Gig zu absolvieren. Thomas, Hardy und T-Base waren Hobbymusiker. Thomas trommelte, Hardy zupfte den Bass und T-Base malträtierte die E-Gitarre. Gesungen wurde nicht, was sie für die Samstagsshow im Simpl disqualifizierte. Stattdessen dieser Gig am Mittwoch, von 23 Uhr bis Mitternacht, zu einer Zeit, in der sich das Publikum ausdünnte. Doch sie hatten ein Dutzend Stammgäste, die jeden Monat das gleiche Programm hörten. Alle paar Monate wurde ein Song ausgewechselt, die Gage war mickrig. Hardy nahm einen Schluck aus der Weinflasche und reichte sie nach hinten. T-Base griff daneben, sie landete auf dem Rücksitz. Die letzte Pfütze lief aus. „Komm schon“, sagte Hardy zu Thomas, „wir ziehen nicht in den Krieg.“ T-Base öffnete eine Dose Bier. Zum Wein auf der Rückbank gesellte sich nun der Bierschaum. „Die Routine ist der Krieg“, meinte Thomas, den Blick weiterhin aufs Ortsschild gerichtet. Er ging in sich und irrte kurz umher. „Werd nicht philosophisch“, antwortete T-Base, „gib Gas, die Fans warten auf uns.“ Sie warteten auf die Cheapoes, diese Bali-Soft-Surf-Band ohne Gesang, entstanden vor zweieinhalb Jahren, als sie sich mehrmals bei Konzerten getroffen und beschlossen hatten eine eigene Band zu gründen. Thomas legte den ersten Gang ein und fuhr weiter. Trotz der Gewohnheit dieser Gigs, nichts neues schafft nichts neues, bezeichneten sich die drei als Vollblutmusiker, sie entlockten ihren Instrumenten seltsame Klänge mit Kaskaden auf Trommeln und Becken, wimmernden, zitternden Saiten, die manchmal schnurrten oder aufschrien, und wenn eine Harmonie entstand, wurde weiter improvisiert. Vor ihnen lagen drei Kilometer durch die Stadt.

 „Halt mal an der Jet-Tankstelle, ich brauche Zigaretten“, sagte Hardy. Kurz vor der Tankstelle sah Thomas einen Polizeiwagen. Er stoppte. „Fahr drauf“, sagte Hardy, „die Bullen haben besseres zu tun als drei alte, halb betrunkene Hippies in einem weinstinkenden alten Hippieauto zu kontrollieren.“ Das tat Thomas, und das Polizeiauto fuhr weg. Die hatten besseres zu tun. Eigentlich rauchte Hardy nicht, höchstens ein Mal im Monat, wenn die Cheapoes im Simpl spielten. Jene Gigs waren keine Pflicht, vielmehr eine, wie T-Base gerne sagte, Rekonvaleszenz vor dem Alltag. Dann wurde gespielt, getrunken und geraucht. Aber es war ein Intermezzo, sie hatten Jobs und Familie. Thomas war Pressesprecher eines metallverarbeitenden Unternehmens in Dortmund, Hardy ackerte mit Schaufel und Hacke als selbständiger Unternehmer die Gärten der anderen um, T-Base, freier Künstler, rückte dem Holz mit einer Kettensäge auf den Leib. Das Simpl allerdings, diese ehrwürdige Kaschemme, war Heimstatt der Aussortierten des gesellschaftlichen Systems, abgehängte, skurrile und exotische Gestalten, Aufschneider, Narzissten, graue Mäuse die sich im Bad der Farben tummelten, auf Zeit gepachtete Abenteurer und Zaungäste jeglicher Art. Ein Sammelsurium der Groteske. Wochentags öffnete das Simpl zur Mittagszeit, als Anlaufstelle für das tagestaugliche Publikum. Man knobelte oder versuchte sinnstiftende Gespräche zu führen, man drängelte den Wirt mal diese oder jene CD aufzulegen, und er schaltete öfter die alte Jukebox an. Sollen sie doch für ihre Musikwünsche bezahlen, dachte er. Einige der Singles waren älter als manche Gäste, andere so unbekannt wie eine dunkle Gasse in einer fremden Stadt. Außerdem hatte die Jukebox eine makabere Geschichte hinter sich, sie hatte zwei Menschen umgebracht. Das konnte kein Zufall sein, als ein Gast die Platte S-66 Schön ist es auf der Welt zu sein drückte und sich nach dem ersten Ton ans Herz fasste und wie von einer Kugel niedergestreckt zu Boden fiel. Sechs Monate später ereilte einen weiteren Gast, auch bei dieser Single, das gleiche Schicksal. Der Wirt ließ die Platte rausnehmen. Der VW-Bully bog von der Hauptstraße zum fast leeren Parkplatz für Gäste, Lieferanten und Musiker. Thomas stellte ihn am Hintereingang ab. 

Sie luden die Instrumente aus. Am Samstag lief die große Show der Woche, von 20 Uhr bis 2-3 Uhr nachts, mit Vor- und Hauptband, moderiert, und am Ende ein Instrumentalist, der den Abend ausklingen ließ. Die Tanzfläche war, wie der Wirt öfter meinte, gefüllt mit einem Haufen aus zuckenden Leibern und schlackernden Beinen. Die Cheapoes schafften es nie für die Samstagsshow, dann müsst ihr singen, hatte der Wirt gesagt, und weil sie das nicht wollten – oder konnten – dafür recht gut improvisierten, bekamen sie diese eine Stunde im Monat am Mittwoch. Samstags kostete der Eintritt 15 Euro, bei den Cheapoes nichts. Im Lokal ging es unaufgeregt zu. Eine halbe Stunde vor dem Auftritt der Surf-Bali-Band knobelten Titten-Werner und der Professor am Tresen, um sie ein paar Gestalten die auf den Schaum ihrer Biere starrten, fester und leerer Blick ins Glas, isolierte Individuen. Der schöne Konsul, ein 22jähriger arbeitsloser Beau, und Enrico, der früher am Hagener Theater gesungen hatte, diskutierten über die Schlagzeilen einer Boulevardzeitung. 

Die Bedienung schaute in die Runde, sie wartete auf Arbeit und Trinkgeld. Thomas bestellte Bier. An Hardy und T-Base gewandt: „Wir sollten nüchtern herkommen, dann haben wir mehr von unserer Bier-Gage.“ „Alkohol ist schädlich“, antwortete T-Base. „Aber nur, wenn dir ein Whiskeyfass vom fünften Stock auf den Kopf fällt“, sagte Hardy. Die drei kannten die Anlage des Simpl, und es war simpel die Instrumente anzuschließen, Stecker landeten in Buchsen, Kabel schlängelten sich über den Boden, Strom floss. So wie ein Witz auch ohne Worte Heiterkeit auslösen kann, so begannen die Cheapoes ohne Anmoderation, sie nickten sich zu, dann schlug Thomas die Stöcke. Das Parkett war leer. Selten zuckten die Arme der Gäste, öfter aber die Beine im rhythmischen Takt. Einige der Hardcorefans standen mit dem Rücken zur Band am Tresen, drei saßen am Tisch, der schöne Konsul und Enrico drängten sich zu Mary-Jane, bürgerlich Gertrude Koslowski, die gerade in den Schankraum trat. Normalerweise legte sie jedem, der es hören wollte und dafür bezahlte, die Tarot-Karten. Ihre Prophezeiungen waren höchst schwammig. Nach, zum Beispiel, der beruflichen Karriere gefragt, antwortete sie, man werde eine Veränderung erfahren. So war man auch vor einer Kündigung nicht sicher. Mary-Jane wurde das Orakel vom Simpl genannt. Sie winkte T-Base zu, er grüßte mit dem Gitarrenhals. Das tat er jeden Monat, wenn sie winkte. Die Leerräume zwischen den Songs dauerten nie lange, es gab nichts zu erzählen, sie spielten das Programm runter, und die Party ging weiter. Hardy und T-Base verschoben die Töne ein bisschen, mal eine Note tiefer oder höher, mal absichtlich schräg, und Thomas experimentierte mit den Becken oder versuchten die beiden aus dem Takt zu bringen, nach dem Motto: Es ist das Recht des Künstlers die Grenzen seiner Räume selbst zu gestalten. Beim letzten Song wirbelte Mary-Jane kurz über die Tanzfläche, vielleicht 10 Sekunden lang, bis ihr schwindelig wurde, dann knipste der Wirt das Licht an. Während Thomas, Hardy und T-Base ihre Instrumente ausstöpselten und einpackten, stellte sich Titten-Werner dazu, etwas lasziv, als wollte er Erotik vermitteln. Das kannten die drei. Titten-Werner war gelernter Transvestit. Es entstand der übliche kleine Tumult ums letzte Bier, jeder wollte noch einen Absacker. Hardy rauchte eine Zigarette – draußen vor der Tür. Thomas nahm die paar Euros Gage in Empfang, und T-Base wurde von Mary-Jane umschwänzelt. Die meisten Gäste gingen so, dass man es noch gut gefunden hätte, wenn sie geblieben wären. Aber den Bauch voller Bier und im Ohr ein paar Klänge. 

Plötzlich standen Thomas, Hardy und der Wirt allein vor dem Tresen. „Packen wir`s“, sagte der Wirt. Thomas zu Hardy: „Wo ist T-Base?“ Die Instrumente waren längst im Bully. Thomas inspizierte die Toilette. „Base ist wohl schon draußen“, meinte der Wirt, er wollte abschließen, nach Hause und selbst ein paar Biere trinken. „Vielleicht liegt er im Bully“, sagte Thomas. Als er die Fahrertür öffnete und reinguckte, lag niemand drin. „Ich schätze, Mary-Jane hat ihn verhext und auf einen Kaffee mitgenommen.“ Sie stiegen ein, Hardy kurbelte das Seitenfenster runter, Thomas zündete den Motor. Leichter Regen begleitete ihren Weg raus aus der Stadt. Hardy rauchte. Sie hörten eine CD von Johnny Cash. Der rechte Scheibenwischer kratzte. Thomas fuhr bis zu einem Hügel am Rande des Sauerlandes und folgte dem unbefestigten Weg nach oben. Im Kegel der Scheinwerfer erkannte man ein kleines Gehöft. Hardy streckte sich. „Na ja“, sagte er, „bis zum nächsten Mal“, und stieg aus. Thomas drehte den Wagen und fuhr los. War doch ein schöner Abend, dachte er. 


The Cheapoes     Teil 2

Die Zeit tat was sie konnte, sie ging durchs Land. Seit dem letzten Auftritt im Simpl, vor 10 Jahren,  hatten sich die Cheapoes nicht mehr gesehen. Hardy und Thomas hatten gleich am nächsten Tag telefoniert, auch eine Woche später, doch von T-Base keine Spur, das heißt, er meldete sich einfach nicht. Seine Werkstatt blieb geschlossen, niemand protestierte, niemand weinte dem Klang der Kettensäge nach. Hardy indes musste einen Mitarbeiter einstellen. Seit ein Schädling die Gärten der Region befallen hatte, gab es genug auszureißen und neu zu pflanzen. Thomas bezahlte seine Beförderung mit ein bisschen Freiheit, er wurde mehrtägig auf Dienstreisen nach Berlin geschickt, um die Öffentlichkeitsarbeit der neuen Niederlassung zu koordinieren. Langsam entfernten sich diese drei Punkte, die sonst in der Mitte lagen, bis an den Rand. Alljährlich flossen Ansichts- und Grußkarten von einem Punkt zum anderen, aber T-Base schickte nichts. Gewohnheit auf der Arbeit, Trott im Alltag, Neues verdrängte Altes, und schon war das Cocktail des Vergessens gemischt. Nichtsdestotrotz dachte Thomas an die Simpl-Jahre. Meistens, wenn er mit seinem neuen Saxophon, während seiner Berlin Aufenthalte, an den Wannsee fuhr und die Badegäste beschallte. Hardy, der mal einen halben Friedhof neu bepflanzen musste, nahm die Bassgitarre mit, stellte sich in ein frisch ausgehobenes Grab und schlug die Saiten zu Delia`s gone. „Gut“, sagte Thomas, „um Zehn am Simpl. Bis morgen.“ Er legte auf. 

Vor einer Woche hatten sich er und Hardy zufällig in einem Gitarrengeschäft getroffen. Man fand die Zeit für einen Kaffee nebenan und blieb salopp. Thomas: Dein Haar wird nicht mehr. Hardy: Dein Bauch wird nicht weniger. Man befragte sich die Leiter der Befindlichkeiten hoch und runter und blieb auf der Stufe zum Simpl stehen, das war der letzte Ort, an dem sie T-Base lebend gesehen hatten. „Sollen wir den Schuppen besuchen? Ich glaube, der Wirt schuldet uns noch eine Gage“, sagte Hardy. „Ja“, antwortete Thomas, „dann können wir sehen wer nicht mehr da ist.“ Eine Woche später trafen sich Thomas und Hardy vor dem Simpl. Es sah gewöhnlich aus. Sie gingen die Stufen hoch zum Eingang. Von innen war kein Geräusch zu hören. Thomas drückte die Klinke runter und öffnete die Tür. Hardy folgte. Sie horchten. Niemand sprach, lachte oder sang, keine Musik, nur Totenstille. Auch die Beleuchtung war ausgeschaltet. Hardy schaute Thomas fragend an. Sie traten in den großen Schankraum. Wenn nach der Leere ein Vakuum folgte, dann war es hier so. Thomas scherzte: „Jemand zu Hause?“ Tatsächlich antwortete niemand. Auf dem Boden und dem Mobiliar lag eine sichtbare Schicht von Staub. Spinnweben hielten ihn zusammen. Alles hatte den Anschein wie vor 10 Jahren benutzt und plötzlich verlassen: Halbvolle Schnapsflaschen, Gläser und CDs in den Regalen, Getränkekisten unterm Tresen, ein Stapel Bierdeckel obendrauf; vermutlich gingen die Gäste an einem Abend raus, und weder sie, noch der Wirt kamen je wieder. Nach der Verwunderung folgte die Neugier: Was war passiert? Um der Sache auf den Grund zu gehen, rückte Hardy zwei Hocker nebeneinander, wischte kurz über den Tresen, während Thomas zwei Gläser und eine Flasche Dimple entstaubte. Hardy schaltete die Beleuchtung an, sie funktionierte. 

Thomas ließ seinen Blick durch den Raum wandern, er sah die Musikbox in der Ecke, mit einer Plane abgedeckt. Er zog die Plane runter. „Komm mal“, rief er Hardy zu. Sie standen beide verwundert davor, denn sie war eingeschaltet. Auf dem Teller lag eine sich noch drehende Single, der Tonarm hatte es seit 10 Jahren nicht geschafft vom Ende in die Ausgangsposition zurückzukehren. Hardy verschränkte seine Arme. Thomas gab der Box einen Schubs, so machte man das wenn eine Platte festhing. Dann studierten sie die Titel. A-380: Andrea Jürgens, Dabei liebe ich euch beide. B-9: Ich zeig dir mein Paradies. C-14: Tina ist weg. „Sieht so aus“, sagte Hardy, „als hätte sie noch mein Vater bestückt, der war nämlich Vertreter bei Ariola und bekennender Andrea-Jürgens-Fan. Die Andrea hatte einen Hang zum Okkulten, ihm wurde auch erzählt, Jack White hätte sich beim texten von ihr beeinflussen lassen. Sie verfasste satanische Verse, was Jack zu den Titeln inspirierte. Während Andrea über Jesus und Satan lamentierte, schrieb Jack Dabei liebe ich euch beide. Und zu Ich zeig dir mein Paradies, waren Äußerungen vorausgegangen wie, das sei Satans Lockung für junge Mädchen.“ „Und warum ist Tina weg?“, fragte Thomas. „Vermutlich wurde sie vom Teufel als Blutopfer zerstückelt.“ Das schien alles ganz logisch. Die Logik ist nur ein menschliches Konstrukt und kein Naturgesetz. Die beiden setzten sich an den Tresen, prosteten in den leeren Raum und tranken Dimple. „So war es wohl gewesen“, sagte Thomas und versuchte im Spiegel gegenüber sein Antlitz zu erspähen, aber ohne Chance, der Spiegel, bzw. der Dreck darauf, absorbierte jegliches Licht. Ungefähr zwei Drinks lang saßen die beiden ohne Worte da, sie blickten sich um, dachten ihren Teil, konstruierten neue Teile und pflügten die Erinnerungen. „Selbstbedienung“, sagte Thomas. Beim Fehlen eines Wirtes bedarf es der Eigendynamik, er ging zum alkoholischen Regal, ließ seinen Blick schweifen und griff eine Flasche Absinth. Er pustete drüber. Bei den CDs fand er Miles Davis. Der CD-Rekorder funktionierte ebenfalls. „Lass uns zum Tisch“, sagte Hardy, und meinte den rechts von der Tanzfläche. Das war früher der Tisch seiner speziellen Fangruppe, bestehend aus drei Leuten. Endlich gab die Situation den nötigen Impuls, als die leere Kneipe mit Phantasie gefüllt wurde: Hardy und Thomas hörten sich selbst spielen, die Hintergrundgeräusche imaginärer Gäste, vertraute Stimmen oder eine Rückkoppelung. 

„Ich hab was im Urin“, sagte Hardy und schritt zur Toilette. „Hauptsache, es ist kein Nierenstein.“ Der Flur dorthin war unbeleuchtet. Er schaltete das Licht ein. Den Kopf noch voller Gedankensplitter, stolperte er nach rechts, und weil da eine Nische hinter einem Vorhang lag, stolperte er rein. Er sah die Konturen einer liegenden Gestalt. Auch dieses Etwas war staubbedeckt. Hardys Augen mussten sich an die Dunkelheit gewöhnen. Er beschleunigte den Prozess und zog den Vorhang zurück. Was haben wir denn da, dachte er, das müsste eine Leiche sein. Per Definition ist eine Leiche tot. Trotzdem kniete er runter, suchte zuerst den Kopf, dann die Füße, und von dort tastend die Hände. Hardy suchte einen Puls. Ohne Erfolg. Er rief Thomas. Der schaute ausführlich hin und meinte: „Wenn das jetzt ein Tatort ist, kommuniziert er nicht mehr.“ Sie fanden eine Bürste und fegte die Leiche frei. Als sie das Gesicht entstaubt hatten, war das Staunen groß. „Sieht aus wie T-Base“, sagte Hardy. „Hm, der Kerl ist einfach nicht älter geworden, guck mal, der sieht aus wie vor 10 Jahren.“ „In der Tat“, frotzelte Hardy, „wären wir heute auf Tournee, hätte er die besten Weiber.“ „Wir werden ihn wohl beerdigen müssen, aber nicht jetzt, er läuft uns ja nicht weg.“ Während er sich umdrehte und gehen wollte, hielt ihn Hardy zurück: „Sein rechtes Bein hat gezuckt.“ „Aha.“ „Ja, tatsächlich.“ Hardy berührte mit seinem Schuh T-Base` rechtes Bein. Leicht, etwas fester, sanfter Tritt gegen die Unterschenkel, und wieder zuckte das Bein. Eine chemisch-elektrische Reaktion war unwahrscheinlich, eher eine angespannte Sehne, die sich nach 10 Jahren endlich entlud. 

Fasziniert  betrachteten sie die Leiche. Dann begann die Transformation, T-Base schlug die Augen auf, blinzelte, hob seine Hände und rieb sich den restlichen Staub vom Gesicht. Nun betrachtete er Thomas und Hardy. Ohne eine Mine zu verziehen sagte er: „Ich weiß wo ich bin, fragt mich nicht.“ Man kannte sich, was gab es da zu fragen? Ob man von den Toten auferstanden sei? Ob er nur zu lange geschlafen habe? T-Base beklopfte seinen Anzug. Er drehte den Kopf mehrmals, hob rechte und linke Schulter abwechselnd, streckte den Körper und murmelte: „Ich müsste was trinken, hab einen staubtrockenen Hals.“ Ganz selbstverständlich kehrten sie zum Tisch zurück. Thomas holte noch zwei Flaschen aus dem Regal und spülte ein Glas. Gläser und Worte klickten aneinander. Lachen unterbrach das Gesagte. Frauen querten ihre Geschichten, sie wurden charakterlich seziert, wie eine von Hardys kleinen Nebenbekanntschaften, einer gewissen Dobi, die sich erst ganz einpudern musste, bevor man sie pudern durfte. T-Base füllte die Gläser nach und schaute Hardy an: „Dobi, ist das die Verniedlichung von Dobermann?“ „Nein“, antwortete Hardy, „das ist so, ihr Vater war gebürtiger Dortmunder, waschecht, und die Mutter stammte aus Bielefeld, und als das Baby kam, und sie immer noch nicht wussten wie es heißen sollte, fügten sie einfach die ersten Silben zusammen.“ „Haha“, lachte Thomas, „stellt euch vor, die Eltern stammten aus Hagen-Wehringhausen und Hagen-Haspe? Dann hätte man sie Wespe genannt.“ „Er redet wie ein klug gewordener Gott“, sagte Hardy pikiert. Fast übergangslos rutschten sie in eine musikalische Fachsimpelei, und würden hier Gitarren rumstehen, hätte man sie längst angeschlossen und bespielt. Schließlich war die Band wieder komplett. T-Base stöberte ein Kartenspiel auf. Er begutachtete die Rückseiten der Karten und suchte nach verdächtigen Mustern. Erst dann mischte er sie und fragte: „Worum spielen wir?“ „Um den Deckel“, antwortete Hardy. Pokern und Skat standen zur Disposition, eventuell Mau-Mau oder Schwarzer Peter. Er gab sie gleich so aus, dass man Skat spielen musste, denn beim Pokern hat ein Stock nichts zu suchen. T-Base spielte gerne alleine, also ohne Kompagnon, er brauchte nicht, wie es ein Mitspieler tun musste, auf die Karten des anderen zu achten, er wusste gleich, was die anderen hatten, wenn er sein Blatt betrachtete. Ohne Buben einen Grand zu gewinnen, war schon schwer. Deshalb verlor er das erste Spiel. Thomas mauerte gerne – um dann mit Wucht einen Durchmarsch zu erreichen. Hardys Kommentar: „Maurer und Dachdecker sind Himmelswesen.“ Alkohol, Spiel und Musik erwärmten die Gemüter. T-Base musste pinkeln. „Komm wieder zurück“, rief ihm Thomas hinterher, und an Hardy gerichtet: „Weißt du noch?“ „Ich weiß einiges, aber ich weiß nicht was du meinst.“ Thomas wusste es selbst nicht, denn einerseits meinte er das Auftauchen von T-Base, andrerseits die alte Zeit vor 10 Jahren. Wie unerwartet, wenn man das Unerwartete bereits hinter sich wähnt, betrat Mary-Jane die Szene. Sie war auf einem Trip, oder anderweitig high, und hatte eine Plastiktüte in der Hand, aus der sie eine Flasche holte. „Da seid ihr ja wieder“, wo ward ihr denn?“ T-Base lächelte. „Wir waren nie weg, setz dich doch.“ Bevor sie das tat, fand sie hinterm Tresen eine CD, legte sie in den Abspieler und drehte auf. Als die ersten Töne erklangen, trommelte Thomas mit den Fingern, Hardy wippte mit den Füßen und T-Base spielte Luftgitarre. Man hatte wohl irgendwann einen Gig der Cheapoes aufgezeichnet und eine CD gebrannt. Mary-Jane zog den Korken aus der Flasche, goss sich zwei fingerbreit ins Glas und fragte: „Noch jemand?“ Die Flasche war durchsichtig, unschwer zu erkennen die Konturen eines Japanischen Zwergoktopus, der tot oder vollkommen betrunken sein musste. „Wir trinken kein Formaldehyd“, protestierte Thomas. „Ach wo, das ist ein bewusstseinserweiterndes Getränk von einem afrikanischen Schamanen, das macht eure Fußnägel und Seelen geschmeidig.“ Diese Aussage schuf Vertrauen, jeder probierte. Aber vor dem Bewusstsein erweiterten sich erst die Blutbahnen, der Beat lag in der Luft, und schon blieben die Karten auf dem Tisch, denn Mary-Jane hatte Lust zu tanzen. Neben der Portion Alkohol hatte Thomas auch den Tanz im Blut, hochdekoriert von zwei Tanzschulen bis zum Goldstatus. Schon nach den ersten Schritten waren sie in eine Staubwolke gehüllt, aber die Aura bestand nicht nur aus materiellem Staub, viel mehr aus dunkler Energie, die sich wie eine Glocke um Zeit, Raum und Erinnerung gelegt hatte. Thomas wirbelte Mary-Jane übers Parkett. „Der ist in seinem Element“, sagte Hardy zu T-Base. „Scheint so.“ „Sollen wir knobeln?“ „Ja, aber den Kalten Schlag: drei Würfel, ein Wurf, die höchste Augenzahl gewinnt“, antwortete T-Base und fing gleich an. Drei Sechsen, mehr als ein Unentschieden war für Hardy nicht drin. Zweiter Wurf T-Base. Drei Sechsen. Hardy war keineswegs erstaunt, er lächelte auch beim dritten Sechser und warf drei Einser. Mary-Jane, hübsch errötet im Gesicht, und Thomas kehrten zum Tisch zurück. Sie tranken je einen Fingerhut vom afrikanischen Seelenschnaps und spülten ihn mit Whiskey runter. T-Base setzte zum nächsten Wurf an. Er selbst glaubte mittlerweile daran, dass es wieder Sechser sein würden. Es stimmte. „Der nächste Tanz gehört dem Gewinner“, sagte Mary-Jane kokett. T-Base war bereits der Gewinner, doch mit einer gewissen Hybris füllte er den Becher erneut, hielt ihn beschwörend hoch, ließ die Würfel im Takt der Musik sekundenlang klackern, und warf ihn zu Tisch. Doch er hob nicht ab. 

Das tat Hardy, nachdem T-Base aufgestanden und Mary-Jane zum Tanz geführt hatte. „Der kann nur Sechser würfeln“, sagte er. Mittlerweile hatten alle konsumierten Alkoholika ihren Weg in die Hirne gefunden, man bediente sich weiter aus den Regalen und schaltete die Cheapoes-CD auf Wiederholung. Es folgten Drinks und Tanz. Es ging solange gut, bis die Füße immer schwerer wurden. Dann wurde man sesshaft. „Seht ihr auch blaue Kreise?“, fragte Mary-Jane. Die anderen bejahten. „So sind wir definitiv auf einem Trip.“ Sie versuchte den Oktopus mit einem Holzstäbchen aus der Flasche zu holen, schließlich ist er irgendwie reingekommen. Natürlich wurde es weder eine Sauerei noch ein Massaker, denn die Flasche war leer und Mary-Jane high. „Hier steckt ein schlechtes Karma drin“, sagte sie und ließ offen, ob die Flasche oder das Simpl gemeint war. „Wer Staub aufwirbelt, wird darin ersticken“, fügte sie lachend hinzu. Das Lachen klang simpel. T-Base lachte mit. Die Deckelrechnung musste noch ausgespielt werden, obwohl keiner beabsichtigte, sie tatsächlich zu bezahlen. Wem auch. Der Knobelbecher stand da. Thomas legte vor, Hardy zog nach und T-Base warf drei Sechser. Ein halbes Dutzend Würfe später rief Thomas: „Da scheißt der Hund aufs Feuerzeug, sind die Würfel verhext? Das ist bestimmt der Schamanenschnaps, nicht wahr, Mary?“ Er schaute in ihre Richtung, doch ihr Stuhl war leer. „Wo ist sie hin? Habt ihr eine Rauchwolke gesehen?“ „Sicher auf dem Klo, nachlegen“, sagte Hardy. Wegen der bisherigen Ereignisse, und den vielleicht noch kommenden, beschlossen sie, den Dingen unveränderbar ihren Lauf zu lassen. Draußen musste es längst dunkel sein, oder schon wieder hell. 

Die Zeiger der Barcadi-Wanduhr standen auf 11:30, und hatten sich seitdem nicht mehr bewegt. Eventuell doch, und zwar um exakt 12 Stunden? Auch wie oft Jack the reefer bereits in Wiederholungsschleife lief, konnte keiner sagen. Jeder war mit seinem eigenen Gedankengut beschäftigt, sie schauten sich eine Sekunde gemeinsam an, erklommen Gipfel, tauchten im Meer, ersannen Geschichten und gossen ihre Gläser voll. Hardy murmelte ein paar Worte, um einen philosophischen Satz zu schaffen. T-Base nahm den Würfelbecher und würfelte ohne Ambition. Fast gelangweilt registrierte er die Sechsen. Als hätte der Würfel keine anderen Zahlen. Er dachte an seinen alten Höfner-Bass, der je nach Jahreszeit seltsam geklungen hatte. Der Verkäufer hatte ihm gesagt, es handele sich um die Bassgitarre von Paul McCartney, sie habe Jahrzehntelang in einem feuchten Keller gelegen.  Thomas stützte sich auf dem Tisch ab und schaute, wie ein Neutrino durch all die Materie hindurch glitt. Er folgte dem Teilchen bis zur nächsten Erdkrümmung, rund um den Globus und ab ins Weltall. Thomas managte die Cheapoes. O.K., er managte die Auftritte allmonatlich im Simpl. O.K., er rief Hardy und T-Base an und erinnerte sie pünktlich zu sein. Um Proben kümmerte sich T-Base, er hatte die Schlüssel zum Proberaum. Hardy zahlte die Miete, holte sich 2/3 Drittel von den beiden wieder. Ungefähr in dieser Reihenfolge liefen die Tätigkeiten der Synapsen ihrer Gehirne, etwas verblasst, hauptsächlich verklärt, doch recht ehrgeizig. Und schon planten die Cheapoes den nächsten Auftritt, zumindest mental, unwissend was morgen sein wird. Es gab Frauen, Kinder, Lebenspartner, Hunde und Wellensittiche, die versorgt werden wollten. Einstein hätte was dagegen, wenn sie die Zeit zurückdrehen würden, dann müssten sie auch Frauen, Kinder und Hunde zurückdrehen. Die Cheapoes saßen am Tisch. Der Außenstehende würde ihnen halbtrunkene Volltrunkenheit attestieren, aber keiner stand draußen, und niemand anderes war drin. Es sei denn, Mary-Jane hätte sich zum Entmaterialisieren in der Nische verkrochen. Unvermittelt begann die Jukebox selbständig zu arbeiten. Eine Single wurde vom Schacht geführt und auf den Teller gelegt, der Abspielarm schob sich zum Anfang. Es knisterte. Schön ist es auf der Welt zu sein. „Heintje war der Albtraum meiner Großmutter“, sagte T-Base, legte die Schamanenflasche flach und drehte sie. Er drehte sie schon so, dass der Hals immer auf einen der anderen zeigte. Dann richtete er den Flaschenhals auf sich selbst und sagte: „Mein Schicksal ist das Klo, da muss ich hin.“ 

Sein Abgang war wenig theatralisch, aber er kam nicht wieder. Als sich Thomas und Hardy kurzfristig im Zeitgefühl zurechtfanden, standen sie auf, beschworen sich bei Gefahr zu stützen, und gingen zum Klo. Das Männerklo war leer. Die Scheißkabine auch. Sie drängten sich, schauten abwechselnd zur Decke, um ein Loch zu erkennen, und auf den Boden. Erst zum Schluss hoben sie den Klodeckel hoch und inspizierten das offensichtliche Loch, das überhaupt zum verschwinden geführt haben könnte. Hardy schüttelte den Kopf: „Da passt T-Base nimmer durch.“ „Wenn er seinen Aggregatzustand gewechselt hat?“ Es gab noch einige Wein-Whiskey-Likörflaschen halb und viertel gefüllt, für gewöhnlich ladet ein Wirt vor der Insolvenz seine Stammkundschaft zum Restetrinken ein. Der Wirt vom Simpl hatte es wohl versäumt. Thomas und Hardy kehrten langsam in ihre eigene Welt zurück, zum Tisch, jedenfalls jeder in seine, trotzdem in die gemeinsame Realität. Sie sprachen darüber, wie sie den nächsten Gig am Mittwoch gestalten sollten. „Es läuft wie üblich“, sagte Hardy. Thomas zweifelte: „Wenn, wie heute, keine Gäste kommen?“ „Heute haben wir auch nicht gespielt.“ Knietief versunken im Sumpf der Subjektivität, von afrikanischen Geistern behaftet, gewannen Thomas und Hardy irgendwann den Überblick. „Erinnerst du dich“, fragte Thomas, „als der Wirt sagte, wir sollten es packen? Hm? Packen wir`s?“ „Ja, packen wir`s.“ Gott sei Dank schien ihnen keine grelle Morgensonne ins Gesicht, sie wussten zwar, dass es Morgen war, aber der Himmel hatte nur Wolken zu bieten. Als sie das Simpl verließen, setzte Thomas seine Sonnenbrille auf: „Würde sagen, bis Mittwoch.“ Er ging rechts rum. „Bis dahin“, rief Hardy, und schwenkte nach links.

I BUILT MY SITE FOR FREE USING